Stadtspaziergang

Station 10 - Erinnerung

Welche Geschichten erzählen Denkmäler? Wer wird geehrt, wer übersehen? Unsere Erinnerungskultur wird auch durch Denkmäler geprägt, doch oft dominieren männliche Persönlichkeiten das Bild. FLINTA* und queere Personen sind in der öffentlichen Erinnerungskultur stark unterrepräsentiert. Erfahre mehr über Erinnerungskultur am Beispiel der Frauenrechtlerin Helene Stöcker.

Erklärungen zu Fachbegriffen, die wir verwenden, findest du in unserem Glossar.

 

Auer Schulstraße 20

Text zum Mitlesen

Auf dem Laufzettel wurde dir ja die Aufgabe gestellt, die Denkmäler zu beobachten. Wer wird dargestellt und auf welche Art und Weise?

Hinter dem Ganzen steht die Frage der Erinnerungskultur: An wen und in welcher Form erinnern wir uns? Welche Personen werden öffentlich geehrt, indem Straßen und Plätze nach ihnen benannt oder Denkmäler errichtet werden?

Vielleicht sind dir Denkmäler aufgefallen, an denen wir vorbeigelaufen sind. Vielleicht musstest du an die vielen Bismarck-Denkmäler denken, die es in Deutschland gibt, an das Friedrich-Engels-Denkmal bei der Oper, Friedrich Wilhelm Dörpfeld in den Barmer Anlagen, dann gibt es noch Kaiser Friedrich, Kaiser Wilhelm usw.

Es gibt viele aktuelle Debatten um unsere Erinnerungs- und Denkmalkultur. Bisher dominierte eine Geschichtspolitik, die vor allem Männer ins Rampenlicht rückte – sei es durch die Benennung von Straßen, Plätzen oder die Errichtung von Denkmälern. Die Debatten stellen die Fragen auch nach denjenigen, die nicht im Zentrum der historischen Aufmerksamkeit standen. Die Spuren, die FLINTA* und queere Personen hinterlassen, werden selten im öffentlichen Raum sichtbar gemacht. Sie sind in der Erinnerungskultur stark unterrepräsentiert.

Statuen, historische Stätten und Straßennamen prägen unser historisches Selbstverständnis und repräsentieren die Geschichte. In diesen Objekten werden Fragen wie „Wer sind wir?“ und „Welche Werte uns ausmachen?“ verhandelt. Denkmäler sind stumme Zeugen, die uns die Ideen und Werte ihrer Schöpfer und die Vergangenheit vermitteln.

Neben der Frage danach, wer dargestellt wird, sollte auch die Art und Weise der Darstellung hinterfragt werden. Die Darstellung von FLINTA* und queeren Personen in Denkmälern verstärkt traditionelle Rollenbilder, da FLINTA* häufig in untergeordneten, Care-Arbeit leistenden oder sexualisierten Rollen dargestellt werden. Außerdem wird selten die Vielfalt ihrer Lebensrealitäten adressiert. So werden häufig weiße Cis-Personen dargestellt, und intersektionale Diskriminierung wird nur gelegentlich angesprochen.

Gerade stehst du vor dem Denkmal von der Wuppertalerin Helene Stöcker. Das Denkmal zeigt eine schmale Person mit Doktorhut, die sich auf Bücher stützt, von ihnen getragen wird oder sogar mit den Büchern verwachsen ist. Das Denkmal zeigt verschiedene Details, die Helene Stöcker beschreiben, zum Beispiel das Symbol des Pazifismus und der Frau. Auf der Rückseite der Figur ist in einer kleinen Klappe auch ein Gruß an die Schöpferin Ulle Hees versteckt. Die Gedenktafel am Boden erklärt: „Dr. Helene Stöcker, Philosophin der Liebe, Frauenrechtlerein Sexualreformerin, Pazifistin – Stele von Ulle Hees und Frank Breidenbruch, Auf Initiative der Armin T. Wegner Gesellschaft e.V. und Geschichte Gestalten“.

Das Denkmal ist eins der wenigen, die ausschließlich weiblichen Personen gewidmet sind. Im Vergleich zu anderen Persönlichkeiten wie beispielsweise der Übergroßen Friedrich Engels Figur vor seinem Geburtshaus mit umliegender Grünfläche oder den deutschlandweit sehr verbreiteten, mittlerweile auch viel kritisierten Bismarck-Türmen, die zu Ehren von Otto von Bismarck häufig auf dem Berg stehen und eine schöne Aussicht mit sich bringen. Auch in Wuppertal steht davon eins auf der Hardt. Das Denkmal von Helene Stöcker wirkt im Vergleich dazu durch die Lebensgröße eher unscheinbar. Das soll keine Kritik an der Künstlerin Ulle Hees sein, die als Bildhauerin diese Stehle zusammen mit Frank Breidenbruch entwickelt hat und mit ihrer Kunst die besten menschlichen Eigenschaften hervorbringt, Mut machen und die Stadt an ihren kulturellen Reichtum und Geist erinnern wollte. Ich möchte mit dieser Station also deinen Blick schärfen, wer und wie diese Personen in der Öffentlichkeit geehrt werden, aber auch auf die Frauenrechtlerin Helene Stöcker als Person aufmerksam machen.

Helene Stöcker wurde am 13. November 1869 in Elberfeld geboren. Sie war eine deutsche Frauenrechtlerin, Pazifistin und Sexualreformerin. Sie schrieb sich als Gasthörerin an der Universität Berlin ein und promovierte später in Bern.

Helene Stöcker engagierte sie sich in der Frauenbewegung und trat für die finanzielle Unabhängigkeit von Frauen ein. Sie gründete den Bund für Mutterschutz und Sexualreform mit anderen Aktivisten. Ihr Hauptanliegen war die Neudefinition der Sexualmoral und das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung für Frauen. Damals waren Schwangerschaftsabbrüche verboten und konnten zu Zuchthausstrafen für alle Beteiligten führen. Der Bund für Mutterschutz wollte konkret durch Aufklärung ungewollte Schwangerschaften und lebensgefährliche illegale Abtreibungspraktiken und Verzweiflungstaten verhindern. Stöcker setzte sich für die Gleichstellung unehelicher Kinder, die Sexualaufklärung und den Zugang zu Verhütungsmitteln ein. Sie war auch Herausgeberin der Zeitschrift „Die Neue Generation“.

Auch heute sind Themen, für die sich Helene Stöcker eingesetzt hat, noch aktuell, wie zum Beispiel Schwangerschaftsabbrüche.

Ihre Biografie sowie die Geschichten vieler anderer Frauen haben die WUPPERFRAUEN aufgearbeitet. Auf ihrer Homepage kannst du auch nochmal mehr über sie nachlesen.

Helene Stöcker kämpfte nicht nur für die Rechte der Frauen, sondern auch gegen den Kolonialismus, weshalb du diese Station auch in dem Stadtspaziergang von Decolonize Wuppertal finden wirst. Die Initiative setzt sich mit der Aufarbeitung der Wuppertaler Kolonialgeschichte auseinander und geht darauf ein, wie geschlechtsspezifische und rassistische Diskriminierung zusammenhängen.

An dieser Stelle möchte ich auch noch kurz den Umgang mit Denkmälern thematisieren. Du kennst bestimmt die Statue von Mina Knallenfalls auf dem Weg zum Hauptbahnhof. Sie stellt die Heldin, die aus armen Verhältnissen stammt, aus der gleichnamigen Mundartdichtung von Otto Hausmann dar. Wenn du die Statue genauer betrachtest, fallen dir goldene Stellen auf. Immer wieder werden weibliche Bronzestatuen von Passant*innen an den Brüsten oder am Hintern berührt. Dieses Phänomen, das offensichtlich Spuren hinterlässt, nutzt die Frauenrechtsorganisation TERRE DES FEMMES und setzt mit bekannten weiblichen Bronzestatuen in München, Berlin und Bremen ein Zeichen gegen sexuelle Belästigung. Über QR-Codes und Audioaufnahmen sprechen die Statuen und geben Betroffenen eine Stimme. Die Frauenrechtsorganisation sollte allerdings kritisch betrachtet werden, da sie sich teilweise transfeindlich und rassistisch geäußert hat.

Die nächste und letzte Station, die Station 11, beschäftigt sich mit dem Thema Sichtbarkeit. Gehe dazu nun wieder zurück zum Laurentiusplatz.